Qualitative Marktforschung

Mir ging es wie vielen anderen: Die qualitative Marktforschung hat eher zufällig meinen Weg gekreuzt. Ich habe dann aber ihre wirkungsvolle Methodik für das Erkennen und Verstehen von Motivationen, Einstellungen und Verhaltensweisen sehr schätzen gelernt.

In dem Bestreben, noch mehr über die Branche herauszufinden, in der ich mich bewege, wurde mir eine Diskrepanz bewusst: Zwar gehört qualitative Marktforschung heute zur gängigen Praxis eines jeden Markenartiklers, aber trotzdem ist ihre physische und theoretische Existenz relativ konturlos und daher wenig greifbar. Mein Eindruck ist: Die qualitative Marktforschung hat als eigenständige Disziplin innerhalb der Marktforschung ihre Identität bisher nur in Ansätzen entwickelt. Dies zeigt sich meiner Ansicht nach vor allem in den folgenden vier Aspekten:

1. Es gibt im deutschsprachigen Raum für alle Bereiche der Marktforschung so gut wie keine systematische akademische Ausbildung. Marktforscher rekrutieren sich in der Regel aus den Studienfächern Psychologie, Soziologie sowie aus den Wirtschaftswissenschaften. Marktforschung als selbständiger Studiengang ist bundesweit kaum zu finden; es gibt ihn in dieser Form lediglich an der Hochschule Pforzheim.

2. Noch weniger entwickelt sind die Möglichkeiten der beruflichen Weiterbildung: Für den Bereich der quantitativen Methoden gibt es noch ein vergleichsweise großes Seminarangebot. Für qualitative Methoden sucht man in Deutschland jedoch fast vergeblich nach Weiterbildungsmöglichkeiten, so dass man auch im Ausland nach entsprechenden Seminarangeboten fahnden muss.

3. Bis vor kurzem mangelte es der qualitativen Marktforschung vollständig an eigenständigen organisatorischen Strukturen. In Deutschland gab es wohl Berufsverbände für Marktforschung, aber nicht, wie zum Beispiel in Großbritannien oder den USA, spezialisierte Foren für qualitative Markt- und Sozialforscher. Mit dem 2005 gegründeten Arbeitskreis Qualitative Markt- und Sozialforschung innerhalb des BVM (AKQua) ist nunmehr ein erster Schritt in Richtung einer systematischeren Strukturierung der Branche getan worden.

4. Zudem ist auffällig, dass es zwar deutschsprachige Literatur für die Bereiche Marketing, Marktforschung allgemein sowie zum Thema Markenführung gibt. Der Bereich qualitative Marktforschung ist jedoch nicht gut abgedeckt. Die thematischen und methodischen Überschneidungen zur Sozialforschung machen die dortige Fachliteratur zwar vielfach nutzbar. Dennoch krankt die qualitative Marktforschung am Fehlen allgemein anerkannter und den kompletten Forschungsbereich abdeckender Standardliteratur. Im Jahre 2007 sind nun zwei Bücher erschienen, die sich schwerpunktmäßig mit qualitativer Marktforschung auseinandersetzen. Zum einen: Naderer, Gabriele / Balzer, Eva (Hrsg.): Qualitative Marktforschung in Theorie und Praxis und zum anderen Buber, Renate / Holzmüller, Hartmut H. (Hrsg): Qualitative Marktforschung, beide erschienen in Gabler Verlag. Beide sind inzwischen in der zweiten Auflage.

Mir liegt die Weiterentwicklung der qualitativen Marktforschung sehr am Herzen, denn meine bisherigen Erfahrungen sagen mir, dass Veränderungen in den oben genannten Bereichen für die Branche - sowohl für Kunden als auch für den einzelnen Marktforscher - enorme Vorteile bergen. Diese kann man wie folgt zusammenfassen:

  • Aufbau einer systematischen Kommunikations- und Diskussionskultur
  • Herausbildung einer wissenschaftlichen, theoretisch basierten Forschungsliteratur anstelle der bisher dominierenden mündlichen Weitergabe von Wissen
  • Förderung innovativer Ideen für Theorie und Praxis
  • Schaffung, Weiterentwicklung und Sicherung professioneller Standards sowohl durch Aus- und Weiterbildung als auch durch Richtlinien
  • Verbesserung der Außendarstellung sowohl innerhalb der Marktforschungsgemeinde als auch innerhalb der Wirtschaftswelt
  • Steigerung der methodischen Transparenz gegenüber Kunden

Ich möchte dazu beitragen – möglichst mit anderen zusammen –, dass stärker über Innovationen und Weiterentwicklung der qualitativen Marktforschung, ihrer Theorie und Praxis, nachgedacht und diskutiert wird.

In diesem Sinne habe ich mich in den letzten Jahren in der Branche engagiert. Über die Initiierung, Konzeption und Koordination zweier BVM-Fachtagungen zu qualitativer Marktforschung im Jahr 2005 fand ich meine Vermutung, dass ein großes Potenzial zum Austausch, zur Vernetzung zwischen qualitativen Marktforschern sowie zur Weiterentwicklung der Branche in Deutschland existiert, bestätigt. Der BVM-Arbeitskreis Qualitative Markt- und Sozialforschung „AKQua“ gründete sich im Anschluss an die beiden BVM-Fachtagungen und hat bis heute seine Aktivitäten erheblich ausgeweitet (mehr Informationen zu AKQua finden Sie unter www.bvm.org). Des Weiteren können Sie die ersten Schritte von AKQua in einem InBrief-Artikel von 2005 nachlesen (S.13).

Mit dem in Zusammenarbeit mit Prof. Gabriele Naderer herausgegebenen und im Juni 2007 erschienenen Fachbuch „Qualitative Marktforschung in Theorie und Praxis“ hoffe ich, auch zur inhaltlichen und theoretischen Selbstbestimmung und Weiterentwicklung der qualitativen Marktforschung beitragen zu können. Die intensive Arbeit an diesem Projekt und meine umfangreichen Recherchen sowohl zur Geschichte als auch zur aktuellen Situation der qualitativen Marktforschung in Deutschland haben mir gezeigt, dass meine anfänglichen Beobachtungen zur Situation der Branche so falsch nicht waren. Umso mehr freue ich mich darüber, dass die Dinge langsam in Bewegung geraten, und ich hoffe, dass dies erst der Anfang einer sich weiterentwickelnden Diskussions- und Reflektionskultur inneralb der qualitativen Marktforschung in Deutschland ist.

Eva Balzer